Projektbeschreibung
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N Schicksale: Nissel Weißmann und Heinz VaterAudioguide

von Sophie Zimmer

In dem Haus Lindenstraße 29 (früher Nummer 17) in Frankfurt (Oder) lebt in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts der Kaufmann Max Vater mit seiner Ehefrau Herta, den gemeinsamen Kindern Ursula, Wolfgang und Heinz und der Schwiegermutter Nissel Weißmann. Nissel Weissmann und Saklikower Herta ist Jüdin und Max Christ, sie führen also nach der nationalsozialistischen Terminologie, eine "Mischehe". Da die älteren Geschwister Ursula und Heinz nicht gleich nach der Geburt christlich getauft wurden, erhalten sie den Status der "Geltungsjuden". Wolfgang jedoch wird als "anerkannter Mischling ersten Grades" eingestuft, da er gleich nach der Geburt christlich getauft wurde. So haben alle Familienmitglieder nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 einen anderen Status.

Heinz Vater ist bei Ausbruch des Krieges gerade 7 Jahre alt und erzählt 63 Jahre später von seinen Erinnerungen aus der Kindheit:

Diese Klassifizierung bedeutete, dass nach Ausbruch des Krieges nur mein Vater und mein Bruder Wolfgang volle Lebensmittelkarten bekamen, während meine Mutter, meine Schwester und ich die mit "J" überstempelten Lebensmittelkarten bekamen, auf die es außer kargen Brot- und Margarinerationen so gut wie nichts gab. Auch sonst mussten wir alle mit den Rassegesetzen verbundenen Demütigungen und Benachteiligungen erleiden. Wir mussten unseren Radioapparat abgeben, meine Mutter, meine Schwester und ich durften keine Verkehrsmittel und keine Parkbänke benutzen und mussten ab 1942 den Judenstern tragen. Einige Geschwister meines Vaters distanzierten sich von uns und erzählten lautstark im Geschäft, das sich im Erdgeschoss unseres Hauses befand, was für gute Nationalsozialisten sie waren und was für eine Schande es sei, dass ihr Bruder eine Jüdin geheiratet hatte. Die normale Volksschule durften meine Schwester und ich ab 1940 nicht besuchen. Nach kurzem Aufenthalt in der jüdischen Schule in der Rieckestraße im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg besuchten meine Schwester und ich eine "Mischlingsschule" in Berlin, in der nur christlich (katholisch oder evangelisch) getaufte Kinder aufgenommen wurden.

(Der offizielle Name dieser Schule war, soweit ich mich erinnere, "Familienschule"; Lehrer und Schüler waren christlich getaufte jüdische Mischlinge. Soweit mir bekannt ist, gibt es keine Dokumentation über diese in jeder Hinsicht einzigartige Schule, in der die (größtenteils mit dem Judenstern versehenen) Schüler auch katholischen bzw. evangelischen Religionsunterricht hatten. Die unteren Klassen der Schule waren in der Brüderstr., die oberen in der Schlosstr. untergebracht.)

1942 wurde zusammen mit allen jüdischen Schulen auch die Mischlingsschule geschlossen; jeder Schulunterricht war uns untersagt.

Meine Schwester und ich wohnten nach Schließung der Berliner Mischlingsschule wieder bei meinen Eltern, die uns Hausaufgaben (im Wesentlichen Rechen-, Schreib- und Leseübungen) erteilten, damit wir das bereits Gelernte behielten und stabilisierten. Dabei ist zu erwähnen, dass nur meine Mutter eine höhere Schule (ein Lyzeum) besucht hatte, während mein Vater nur eine dörfliche Grundschule besucht hatte und später eine kaufmännische Ausbildung absolvierte. Als Handlungsreisender hat er sich immerhin im Selbststudium recht gute Französisch- und Italienischkenntnisse beigebracht. Meine Großmutter Netty (Nissel) Weißmann, die bei uns wohnte, wurde 1942 ins KZ Theresienstadt deportiert, von wo sie ins Todeslager Auschwitz kam. Wir haben sie nie wieder gesehen. Die Trennung von unserer Großmutter, die wir alle sehr liebten, war ein harter Schlag.

Spielgefährten hatten wir nicht, da den Nachbarskindern das Spielen mit uns streng verboten war. Die Eltern der meisten Kinder waren Nazis oder Mitläufer. Einmal fragten uns Kinder "Warum geht ihr denn nicht nach Jerusalem?", worauf wir verwundert antworteten, dass wir noch nie in Jerusalem gewesen waren. Solche Fragen waren noch harmlos; oft kam es zu Beschimpfungen oder Drohungen.

Es gab jedoch auch mutige Menschen, die in dieser schweren Zeit zu uns hielten. Frau Bosinski, die aus Schlesien stammte und (im Gegensatz zur überwiegend protestantischen Umgebung) katholisch war, hielt zu uns. Da uns das Radiohören verboten war und "Tante Bo" (wie alle Kinder sie nannten) wusste, dass wir Musik mochten, ließ sie uns oft nach einem Blick aus unserem Küchenfenster, um zu sehen, ob "die Luft rein war", über eine Hintertreppe in ihre Wohnung.

(Uns gegenüber wohnte eine "Nazisse", vor der wir uns in Acht nehmen mussten.)

So hörten wir Silvester 1943/44 bei Tante Bo die "Fledermaus" von Johann Strauss, für mich ein unvergessliches Erlebnis, zum einen, weil Musik in meinem Leben schon immer eine große Rolle gespielt hatte (später ernstere Musik: Bach, Beethoven, Debussy), zum anderen, weil Theater- und Konzertbesuche für uns ja total außerhalb aller erreichbaren Wünsche waren. So hatte Tante Bo meiner Schwester und mir eine riesige Freude gemacht. Außer Tante Bo gab es noch einen jungen katholischen Priester, Johannes Raabe, der uns von Zeit zu Zeit besuchte und uns Bücher mitbrachte was streng verboten war , z.B. antike und deutsche Sagen von Gustav Schwab. Ich werde diese zwei Menschen, die uns in schweren Zeiten halfen und dabei ihre Freiheit, vielleicht sogar ihr Leben riskierten, nie vergessen.

Mein Vater, der zur Organisation Todt zum Bau des Atlantikwalls in der Normandie zwangsdienstverpflichtet worden war, schaffte es nach der Invasion der Alliierten durch eine "Selbstverstümmlung" nach Hause entlassen zu werden mit der Verpflichtung, in einem kriegswichtigen Betrieb zu arbeiten; er fand eine Stelle in einer Fallschirmfabrik in Frankfurt-Oder. So konnte er zum Kriegsende bei seiner Familie zu sein, um sie zu beschützen.

Die ganze Zeit hindurch drohte meiner Mutter, meiner Schwester und mir die Gefahr, in ein Vernichtungslager deportiert zu werden (vgl. Beate MEYER 20022 und TENT 2003). Zur Struktur und Funktionsweise der Vernichtungslager vgl. Ruth KLÜGER: Still alive. New York: The Feminist Press, 2001).

Im Januar 1945 wurde Frankfurt-Oder zur Festung erklärt; die Bewohner wurden aufgefordert die Stadt zu verlassen. Anfang Februar 1945 erreichte die Rote Armee das andere Oderufer und besetzte die Dammvorstadt (das heutige Słubice). Von dort konnten die Russen das Stadtzentrum und die Gubener Vorstadt, wo wir wohnten, beschießen. Trotzdem blieben wir da, als die Stadtbevölkerung Anfang Februar evakuiert wurde. Mein Vater errichtete uns im Keller ein Versteck (mit Lebensmitteln, die uns das Überleben ermöglichten). Wir gingen nur in den wenigen Beschusspausen herauf in die Wohnung, um uns zu waschen und notwendige Dinge herunterzuholen. Zum Schluss gab es noch zwei fünfstündige Bombenangriffe.

In der Nacht vom 22. zum 23. April rückten die Russen ein und die furchtbare Verfolgung durch die Nazis hatte ein Ende. Wir hatten zwar, wie alle anderen verbliebenen Bewohner, kaum etwas zu essen; die städtische Wasserversorgung war zusammengebrochen und wir mussten Wasser aus einem Brunnen holen, aber wir waren frei. Es dauerte ein halbes Jahr, bis wir wieder Schulunterricht (in der Grundschule) hatten und nochmals ein halbes Jahr, bis das Gymnasium wieder eröffnet wurde und meine Schwester und ich die Sondergenehmigung zum Gymnasiumsbesuch bekamen, wo wir auch tatsächlich schon nach ca. einem Jahr den Anschluss schafften. Jahre sollten jedoch vergehen, ehe wir völlig ungezwungen und freundschaftlich mit den anderen Schülern umgehen konnten. Lange Zeit wechselte ich zur anderen Straßenseite, wenn mir andere Jugendliche begegneten. Wenn einem jahrelang eingehämmert wurde, dass man ein Mensch zweiter Klasse ist, wird einem die plötzlich erlangte Freiheit und Gleichberechtigung zum Problem wohl ähnlich wie die erste Mahlzeit für einen völlig Ausgehungerten.

Die Familie Vater überlebt also die furchtbare Zeit. Heinz Vater leidet noch lange unter dem Gefühl der Minderwertigkeit, dass ihn in seiner Kindheit begleitet hatte.

Nissel Weissmann Die Familie zieht später nach Ostberlin, wo Heinz ein Studium der Germanistik mit sehr guter Leistung abschließt. Als Professor für Germanistik und Linguistik hat er Lehrstellen in Köln und in den USA inne, erhält die Ehrendoktorwürde einer ungarischen Universität und reist für Lehrveranstaltungen viel durch die Welt. Heute ist er emeritiert und nimmt unter anderem an Zeitzeugenveranstaltungen in Frankfurt (Oder) und Słubice teil.

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A - Jüdische Anfänge
B - Alte Universität
C - Hebräischer Buchdruck
D - Heutige jüdische Gemeinde
E - Jüdisches Krankenhaus und "Judenhäuser"
F - Schicksale: Kinderarzt Dr. Herrmann Neumark
G - Synagoge
H - Jüdischer Friedhof
I - Schicksale: Familie Kurt Fellert
J - Gestapo-Leitstelle und Gruppe Hannemann
K - Architekt Konrad Wachsmann
L - Jüdische Unternehmer der Zwischenkriegszeit - Kaufhaus Hirsch
M - Jüdische Unternehmer der Zwischenkriegszeit - Bettfedernfabrik Neumann
N - Schicksale: Nissel Weißmann und Heinz Vater


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